Antrag der Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP
Was pflegende Jugendliche, Young Carer, leisten und leisten müssen, ist zugleich eindrucksvoll und erschreckend. Eindrucksvoll, weil sie die Kraft aufbringen, neben Schule oder Ausbildung die herausfordernde Aufgabe wahrzunehmen, Angehörigen aufgrund einer physischen oder psychischen Krankheit Beistand zu leisten. Erschreckend, weil sie damit in vielen Situationen auf das verzichten müssen, was die Jugend so besonders macht: Die Unbeschwertheit.
Diese in der Studie der Universität Witten-Herdecke ermittelten 480.000 Jugendliche in der Bundesrepublik verdienen unseren höchsten Respekt und gleichzeitig unsere andauernde und uneingeschränkte Unterstützung. Nach Angaben des Vereins Young Carer leben in unserer Landeshauptstadt, hier in Mainz, 1.174 Kinder, die Erwachsene pflegen. Das ist eine beachtliche Zahl, aber die Dunkelziffer dürfte noch deutlich höher liegen.
Im Antrag der Ampelfraktionen, den wir FREIE WÄHLER ausdrücklich begrüßen, findet sich die Formulierung, dass diese Jugendlichen oftmals nicht im Stande sind, bestehende Rechtsansprüche geltend zu machen, da das „Standing“ oder Durchsetzungsvermögen fehlen. Das ist sicherlich richtig, aber es gilt hier noch einen Aspekt zu ergänzen.
Wenn Kinder und Jugendliche neben ihrem Alltag die Pflege von Angehörigen übernehmen – mit allem, was damit zusammenhängt –, dann fehlt ihnen in vielen Fällen schlichtweg die Zeit, sich den Beistand einzuholen, der ihnen eigentlich zusteht. Um für die dringend notwendige Entlastung zu sorgen, müssen Zugänge vereinfacht werden. Und eine Grundvoraussetzung dafür besteht darin, dass die existierenden Angebote an Bekanntheit gewinnen.
Vor diesem Hintergrund ist es richtig, dass wir uns heute öffentlichkeitswirksam mit diesem Thema beschäftigen. Denn neben den beschriebenen Barrieren mag auch Scham ob des eigenen familiären Schicksals dem Besuch einer Beratungsstelle im Weg stehen. Umso wichtiger ist es, dieses Phänomen deutlicher in den gesellschaftlichen Fokus zu rücken. Denn manchmal erkennt sogar das nähere Umfeld die Belastungen, denen sich junge Pflegende ausgesetzt sehen, nicht oder nicht vollumfänglich. Doch hier kann der Impuls außerhalb der Familie von entscheidender Bedeutung sein.
Wenn Nachbarn, Lehrer oder Eltern von Schulkollegen über die Situation von jungen Pflegenden im Bilde und gleichzeitig über die bestehenden Angebote in Kenntnis sind, sind diese jungen Menschen nicht länger gänzlich auf sich allein gestellt. Deswegen unterstützen wir auch die im Antrag geforderte Studie, die zunächst eine aktuelle Bestandsaufnahme von jungen Pflegenden in der Bundesrepublik ermöglichen soll.
Um Unterstützungsmaßnahmen des Landes möglichst zielgerichtet aufsetzen zu können, braucht es eine entsprechnde Datenbasis. Aber wir können auch auf bereits bestehende Strukturen zurückgreifen. Die Gemeindeschwester Plus gilt zu Recht als Erfolgsmodell. Diese Fachkräfte beraten hochbetagte Menschen, die zwar noch keine Pflege benötigen, aber Unterstützung in der aktuellen Lebenssituation.
Mit entsprechender Aufstockung der Mittel im Landeshaushalt halte ich es für sinnvoll, deren Wirkungskreis auf die Gruppe der Young Carer auszuweiten, um Jugendlichen eine weitere Anlaufstelle zu bieten. Und dies bestenfalls in gewohntem Umfeld in den eigenen vier Wänden.
Meine Damen und Herren, es macht mich betroffen, wenn ich über die Schicksale von jungen Menschen und deren Angehörigen lese, die nahezu jegliche Form angemessener Kindheitserfahrungen unmöglich machen. Kinder sollten nicht zu früh in die Rolle von Erwachsenen schlüpfen müssen, also den Weg der Parentifizierung gehen. Kinder sollten Kinder sein dürfen, mit allem, was dazu gehört. Aber in fast jeder Schulklasse sitzt ein Kind, das unter anderen Umständen groß wird. Das ist nicht gerecht, aber leider Realität.
Diese Kinder gehen nicht protestierend auf die Straße, sie sind in keiner Gewerkschaft organisiert und ihnen fehlt zu oft die Plattform, um laut aufzuschreien. Umso wichtiger ist es, dass wir uns als Politik vereint hinter sie stellen und alle Betroffenen, Kinder, Jugendliche und Erwachsene wissen lassen: Ihr seid nicht allein!
Es gilt das gesprochene Wort.