43. Plenarsitzung – Joachim Streit zum “Landesgesetz zur Änderung der Verfassung für Rheinland-Pfalz (Änderung des Artikels 76)” – mit Video

Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP

Video: Landtag RLP

Jede Änderung unserer Verfassung bedarf einer reiflichen Vorprüfung und einer besonderen Begründung. Es geht um Verfassungsrecht und nicht um Befindlichkeiten. Mit der Absenkung des Wahlalters unter die Volljährigkeitsgrenze auf 16 Jahre ist ein besonderer Punkt betroffen. Und hier bemisst sich verfassungsrechtlich alles am sogenannten Demokratieprinzip. Das Demokratieprinzip, wie es das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am 29. Januar 2019 – also vor vier Jahren – festgestellt hat, enthält eine Ernsthaftigkeitsgarantie. Es stellt Mindestanforderungen an Mündigkeit und Reife des Menschen. Mündigkeitsregeln dürfen nach dem BVerfG nicht im Einzelfall überprüft werden und somit diskriminierend versagt werden, sondern es ist die Kohortenbetrachtung entscheidend. Das verlangt in Summe Mindestanforderungen an die Einsichts- und Handlungsfähigkeit der Alterskohorte als Wähler, in unserem Fall der 16- und 17-Jährigen.

Niemand bestreitet, dass junge Menschen auch an Politik und politischen Themen interessiert sind. Allerdings reicht Begeisterungsfähigkeit nicht aus, und das Interesse darf nicht monothematisch sein, wie nur Interesse am Klimaschutz. Gesetzliche Mündigkeitsregeln gibt es in den verschiedenen Rechtsgebieten und die Reife begründet sich dort im Wesentlichen auf 18 Jahre mit den Vorschriften des § 2 BGB und des § 1 Jugendgerichtsgesetz. Dabei ist klar zu unterscheiden zwischen Regelungen, die den Jugendlichen schützen wollen, und denen, die auch zum Schutz Dritter sind. Beim Wählen sind auch Dritte zu schützen, nämliche alle, die von der Wahlentscheidung betroffen sind.

In fast allen Rechtsgebieten ist die 18, die Volljährigkeit, die Wendemarke – volle Geschäftsfähigkeit, volle deliktische Haftung im Zivilrecht, die Möglichkeit der vollen strafrechtlichen Verantwortung. Und ein weiterer Punkt des Demokratieprinzips ist wichtig: Wahlen ab 16 Jahren sind gewissermaßen „betreute Wahlen“. Hier wählen Minderjährige, die erstens unter der Personensorge ihrer Eltern stehen und zweitens dem staatlichen Erziehungsauftrag unterliegen. Da in der Demokratie die Willensbildung von unten nach oben verläuft, dürfen die staatlichen Schulen, die das Gros der 16- bis 18-Jährigen mit Berufsschule und gymnasialer Oberstufe besucht, keine politische Bildung betreiben, weil der Staat sich sonst seine eigenen Schützlinge trimmt. Dabei haben Studien ergeben, dass vor allem Schüler aus gefestigten Elternhäusern wählen gehen und das sind in der Regel Gymnasiasten. Unbestritten ist: Jugendliche haben eine Meinung und Jugendliche sind engagiert. Sie sind ein Stück weit engagierter als in der Vergangenheit. Aber nicht alle sind engagiert und nicht alle sind gleich engagiert. Aber darauf kommt es bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung nicht an. Sondern: Die Kernfrage für das aktive Wahlrecht ist und bleibt die Beurteilung der Reife eines jungen Menschen, nach Maßgabe in welchem Umfang er die Folgen seiner Entscheidungen für die Gesamtheit unserer Bevölkerung absehen kann. Durch die Teilhabe an Wahlen werden grundsätzliche Entscheidungen für die Mehrheitsverhältnisse in politischen Gremien und damit auch für oder gegen politische und gesellschaftliche Zielrichtungen manifestiert.

Es wird in der Diskussion von den Befürwortern gesagt, die Jugendlichen seien heute reifer als früher. Das sieht der Bundesgesetzgeber zumindest nicht so. Sondern es ist so, dass bereits am 2017, also vor sechs Jahren, beim Gesetz zur Bekämpfung der Kinderehen er sehr bewusst noch einmal die Altersgrenze zur Heirat von 16 auf 18 Jahre heraufgesetzt hat. Die Begründung: „Die Tragweite dieser Rechtsfolgen vermag der Minderjährige in Ansehung seines Alters nicht vollständig abzusehen.“ Und beim aktiven Wahlrecht beschränkt sich die Reife nicht nur auf Fragen des eigenen persönlichen Rechtsbereichs, sondern auf alle Bürger und Einwohner und alle ihre Rechtsbereiche, auf die eine gewählte Regierung Einfluss hat.

Uns so müssen wir festhalten: Interesse und Engagement und Begeisterungsfähigkeit ersetzen keine Reife und deren Fähigkeit zu abstrahieren und Wahlfolgen abzuschätzen. Auch die Kenntnis zu einzelnen Themen reicht nicht aus. Was ist also zu tun, um die Reife in Rheinland-Pfalz festzustellen? Wir FREIEN WÄHLER verschließen uns nicht dem Beteiligungswunsch junger Menschen. Wir müssen als Gesetzgeber aber unserer eigenen Abwägungsfunktion für das Wohl und Wehe aller Menschen in Rheinland-Pfalz gerecht werden. Und dann geht es nicht darum, einem Zeitgeist hinterherzulaufen.

Auf Zahlen, Daten und Fakten basierend, kann dies gesichert nur eine eine empirische Untersuchung, bezogen auf unser Bundesland, die den Reifegrad der 16- und 17-Jährigen, umfassend und objektiv feststellt. Und abschließend noch ein anderer Gedanke, der im Gespräch mit Jugendlichen offenbar wurde. Das Wählen ab 16 führt nicht zur vollen Teilhabe. Der Begriff „aktives“ Wahlrecht täuscht vor, dass aktiv mehr als passiv sei. Dabei ist die volle Teilhabe erst mit dem passiven Wahlrecht gegeben. Wenn die Antragsteller es also wirklich ernst meinen und junge Wähler nicht nur als Stimmenbeschaffer, sondern künftige Kollegen und volle Mitstreiter sehen wollen, muss man ihnen auch das volle Wahlrecht geben, aktiv und passiv. Das nennen wir FREIE WÄHLER echte Teilhabe der jungen Menschen.

Es gilt das gesprochene Wort.

Related Images:

Nach oben scrollen