Fraktionsvorsitzender Joachim Streit zum Koalitionsvertrag und der Regierungserklärung von Ministerpräsidentin Malu Dreyer
MAINZ. „Koalition des Aufbruchs und der Zukunftschancen – für eine Regierung, die schon fünf Jahre zu Gange ist, ein eigenartiger Titel für den neuen Koalitionsvertrag!“ Mit diesem einen Satz stellt Joachim Streit, Vorsitzender der FREIE WÄHLER Landtagsfraktion (FW), der neuen und alten rot-grün-gelben Regierung um Ministerpräsidentin Malu Dreyer in der Erwiderung zu deren Regierungserklärung ein schlechtes Zeugnis für ihre bisherige Arbeit – und die zukünftige – aus.
Ein „Sammelsurium auf 185 Seiten“ mit weniger Visionen „als eine enumerative Auflistung von Details“. Streit und die FREIE WÄHLER-Fraktion finden erstaunlich wenig, was in den nächsten fünf Jahren der Legislaturperiode passieren soll. „Vielmehr sind die Jahre 2030, 2035, 2040 genannt – so unter anderem für die Umsetzung der Klimaschutzziele. Jahre, in denen es diese Regierung nicht mehr geben wird.“ Streit fühlt sich mit dem Koalitionsvertrag eher an Bücher seiner Jugend erinnert: „Die 3??? – das sind wahrlich SPD-Grüne-FDP.“
Auf komplexes Unverständnis, dass sogar mehr als drei Fragezeichen aufwirft, sticht der FREIE WÄHLER-Fraktion allerdings ein Punkt ins Auge, der wahrhaft einer irrealen Geschichtenerzählung gleicht: Um das Ziel Klimaneutralität zu erreichen, plant die Ampel-Koalition innerhalb der Landesregierung eine koordinierende Projektgruppe einzusetzen, die sich aus den inhaltlich zuständigen Ressorts unter der Federführung des Ministeriums für Umwelt zusammensetzt. „Hier werden Leute aus den eigenen Reihen eingesetzt, die sich selbst bescheinigen, welche Fortschritte sie erreicht haben“, kritisiert die FREIE WÄHLER-Fraktion ungläubig. „Hier fühlt man sich nach Schilda versetzt!“ deshalb fordert die FW eine unabhängige Klimaschutzkommission mit Experten aus der Wissenschaft unter der Beteiligung ziviler Akteure wie Fridays for Future und Scientists for Future. „Nur so kann der Fortschritt hin zur Klimaneutralität wirklich überprüft werden!“
Als größten Skandal sieht die FREIE WÄHLER Fraktion die Verfassungswidrigkeit der kommunalen Finanzausstattung. Zuständig dafür in der Regierung der jüngsten 20 Jahre: die SPD! „Mit der Abschaffung der Bedarfszuweisung in den Nuller Jahren begann die Misere der finanzschwachen Kommunen“, legt Streit den Finger in die Wunde. „Flankiert wurde das durch ein nicht angewandtes Konnexitätsprinzip und einen chronisch schlechten Finanzausgleich. Wir FREIE WÄHLER sehen das Land in der Bringschuld und erwarten, dass erst einmal das Land seine Pläne eines neuen kommunalen Finanzausgleichs präsentiert, bevor die ADD die Kommunen zu Steuererhöhungen zwingt. Denn maßgeblich ist der aktuelle Finanzbedarf der Kommunen auf der Grundlage der aktuellen Einnahmen und Ausgaben, nicht der fiktive Finanzbedarf auf der Grundlage erzwungener Steuererhöhungen!“
Unterstützung fehlt nicht nur für die Kommunen, auch die „Blaulichtfamilie“ fühlt sich im Stich gelassen. So schauen etwa 51.000 Feuerwehrleute in die Röhre und 2250 Freiwillige Feuerwehren im Land bangen um den Nachwuchs. Denn weder im Koalitionsvertrag, noch in der Regierungserklärung finden sie Berücksichtigung. Dabei hatte die Kommunalpolitische Vereinigung der SPD, die SGK, vor der Wahl eine „Feuerwehrrente“ für ehrenamtlich tätige Floriansjünger ins Spiel gebracht. Auch hier bleibt ein Fragezeichen: Wo bleibt die Blaulichtfamilie?
Neben dem Rückhalt für die „Blaulichtfamilie“ fordern die FREIEN WÄHLER auch eine Unterstützung im Ausbau der regenerativen Energien. Sie plädieren für ein 100.000-Dächer-Programm, das Anlagen fördert, die mit Speicher die erzeugte Energie aufnehmen. „Wir brauchen Unterstützung durch Anreize – nicht durch Verbote oder Vorschriften. Wir stehen für eine ideologiefreie Energiewende, die die Menschen zu Beteiligten und nicht zu Befohlenen macht!“ Für gewerbliche Neubauten oder Parkplätzen mit mehr als 50 Stellplätzen Photovoltaikanlagen vorzuschreiben ist ebensowenig ein Anreiz wie das Näherrücken der Windräder an Hausbebauungen oder deren Installation im Biosphärenreservat Pfälzer Wald.
Klimaschutz und Nachhaltigkeit werden auch dann unterstützt, wenn der ÖPNV – mit einem Nahverkehrsgesetz ein Rohrkrepierer der jüngsten fünf Jahre – interessanter gemacht wird. So fordert die FW-Fraktion das 365-Euro-Ticket für alle und nicht nur für Schüler!
Eintreten wollen die FREIEN WÄHLER auch für eine Entschädigung der Händler, die aufgrund der Coronabekämpfungsverordnung ihre Geschäfte schließen mussten – auch ohne
Krankheitsfall. Entschädigung erhalten nach dem Infektionsschutzgesetz nur Betriebe, die vom Gesundheitsamt wegen eines Infektionsgeschehens im Unternehmen geschlossen wurden. „Soziale Gerechtigkeit sieht anders aus“, unterstreicht Joachim Streit, der zudem anmahnt: „Einen neuen Lockdown darf es im Herbst so nicht mehr geben. Mit Einsicht und Willen, Masken und Hygieneregeln müssen neuerliche Schließungen verhindern.“
Neben Händlern gilt es auch, die Kulturschaffenden zu unterstützen. Hier fordert die FREIE WÄHLER-Fraktion ein Kulturfördergesetz analog des Kulturraumgesetzes des Freistaats Sachsen.
Mager sehen auf dem Papier auch die Pläne der Regierung hinsichtlich der Zukunft der Innenstädte aus. Viel erfährt man nicht! Die FREIEN WÄHLER haben Vorschläge: Ein Maßnahmebündel aus drei Säulen bestehend aus Stadt, Eigentümer und Pächter/Betreiber. Ein großes Nichts, keine Ideen, keine Visionen liefert die Regierung auch zum Thema Landesentwicklung. Neben dem Zentralen Orte-Prinzip (Oberzentren, Mittel- und Kleinstädte) müssen Kooperationsräume unabhängig davon – neue Versorgungszentren – geschaffen werden, denn die ZOP sind für viele weit entfernt beziehungsweise schwer erreichbar. Apropos Land: Die Landwirte fühlen sich von der Landespolitik im Stich gelassen. Immer mehr Familienbetriebe verschwinden, dabei ist dieser Klimaschutz an erster Stelle. Daher fordert die FW-Fraktion eine Imagekampagne pro Landwirtschaft, einen Lösungsvorschlag zur Rettung der bäuerlichen Familienbetriebe!
Ebenso vage wie zur Landwirtschaft äußert sich die Regierung auch zur Gesundheitsversorgung. Lapidar heißt es „Gute Versorgung für alle“ – das meistbenutzte Wort ist „wollen“. Dagegen ist „wohnortnah“ mit keiner Silbe mehr zu finden! Doch diese Versorgung muss zwingend erhalten werden. „Vorrangig unverzichtbare Standorte“ zu erhalten, wie es im Koalitionsvertrag steht, reicht den FREIEN WÄHLER nicht. „Die wohnortnahe Versorgung muss erhalten bleiben!“
Aber der wesentliche Satz des Koalitionsvertrags lautet: „Angesichts der unsicheren Haushaltslage stehen alle vereinbarten Vorhaben unter einem Finanzierungsvorbehalt.“ Das heißt, alle Ziele, die für die nächsten fünf Jahre formuliert werden, sind keine verbindlichen. Da fragt es sich, wann können wir wirklich mit der Umsetzung des Koalitionsvertrags rechnen?